Zur Unparteilichkeit von Wissenschaft
I. Grundsätzliches
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben in Staat und Gesellschaft zentrale Aufgaben. Kraft ihrer Expertise sind sie maßgeblich in die Entscheidungsprozesse von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion eingebunden. Die Gesellschaft vertraut zu Recht auf die Unparteilichkeit des wissenschaftlichen Urteils. Im Gegenzug erwartet die Wissenschaft von der Gesellschaft Respekt vor der wissenschaftlichen Qualifikation und Vertrauen in ihre Unparteilichkeit.
Wissenschaft als Suche nach Wahrheit setzt Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen sowie Unparteilichkeit voraus. Wissenschaftliche Argumente und Urteile dürfen nur nach Würdigung aller wesentlichen Gegenargumente abgegeben werden. Gefälligkeitsgutachten, Einseitigkeit der Argumentation und jeder Anflug von Parteilichkeit widersprechen dem Berufsethos des Wissenschaftlers. Wissenschaft ist weisungsfrei und nur sich selbst verpflichtet. Das schließt ihre Indienstnahme und Instrumentalisierung durch Dritte oder durch Wissenschaftler selbst aus.
Die Verpflichtung zur Unparteilichkeit verpflichtet jeden einzelnen Wissenschaftler zur Unvoreingenommenheit, zu aktiver und passiver Kritikfähigkeit und auch zur Nichtanpassung an herrschende Meinungen und Auffassungen, sofern sie seiner wissenschaftlichen Überzeugung und seiner Suche nach Wahrheit widersprechen. Unparteilichkeit und resignative Unterordnung unter den "Mainstream" sind miteinander unvereinbar.
Staat und Gesellschaft haben die Unparteilichkeit von Wissenschaft zu schützen und fördern. Sie müssen für ein Klima sorgen, das Unparteilichkeit zulässt. Damit ist eine vornehmlich nach ökonomischen Gesichtspunkten gesetzte Anreizstruktur nicht vereinbar. Darüber hinaus äußert sich Unparteilichkeit auch darin, dass solche Forschungsprojekte Förderung finden, die von der herrschenden Meinung als abseitig angesehen werden und denen wenig Erfolgschancen zugemessen werden. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, dass große, bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen häufig von lange verkannten und verfemten Außenseitern gemacht wurden. Deshalb gehört auch der Respekt vor und nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit anderen Meinungen zur Unparteilichkeit von Wissenschaft.
II. Forderungen des DHV
Um die Gefahren, die von Beeinflussungsversuchen auf wissenschaftliche Forschung und Expertise ausgehen, einzudämmen, fordert der Deutsche Hochschulverband:
1) Kein weiterer Rückzug aus der staatlichen Forschungsfinanzierung
Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Wissenschaft müssen die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern für eine ausreichende Grundfinanzierung von Forschung Sorge tragen.
Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bedingen einander. Die Unabhängigkeit der Wissenschaft setzt eine ausreichende Grundfinanzierung von Forschung und Lehre voraus. Daran mangelt es aber: Neun von zehn Wissenschaftlern haben in den letzten fünf Jahren Drittmittel beantragt, weil sie nur auf diese Weise Projektmitarbeiter beschäftigen können. Solange Einwerbungserfolge bei Drittmitteln reputations- bzw. karrierefördernd wirken, finanziell belohnt werden und sich immer mehr zum Fetisch und zur Währung des Wissenschaftsbetriebs entwickeln, wächst die Gefahr sachfremder Einflüsse auf die Wissenschaft. Der Deutsche Hochschulverband (DHV) sieht deshalb die wachsende Abhängigkeit von Drittmitteln in der Forschungsförderung mit Sorge. Auf einen Euro Drittmittel entfielen im Jahr 1995 zwei Euro Grundmittel für die Forschung, 2008 waren es hingegen nur noch 85 Cent. Vor diesem Hintergrund ist die Koppelung der Grundfinanzierung an das Drittmittelaufkommen ein Irrweg.
Der DHV hält Kooperationen zwischen Universitäten und Wirtschaft auch in Zukunft für wichtig und wünschenswert, weil sich Wissenschaft und berufliche Praxis gegenseitig befruchten. Sie sind häufig unerlässlich, um aufwendige Forschungsvorhaben zu ermöglichen. Die in den zurückliegenden Jahren zu beobachtende, strukturelle Verschiebung hin zu mehr drittmittelfinanzierter Forschung mit einer Verschärfung des Wettbewerbs um Finanzierungsmittel ist jedoch für die Unabhängigkeit und damit die Unparteilichkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (*) schädlich.
2) Transparenzgebot bei Kooperationen Wirtschaft /Wissenschaft
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können den Verdacht, nicht erkenntnis-, sondern interessengeleitet zu forschen, durch größtmögliche Transparenz entgegenwirken. Der DHV begrüßt daher den Verhaltenskodex, mit dem der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft Unternehmen und Hochschulen nahelegt, ihre Zusammenarbeit für die Öffentlichkeit nachvollziehbar zu gestalten. Demnach müssen sich z. B. Geldgeber und Hochschule bei der Einrichtung von Stiftungsprofessuren einvernehmlich über das zu bearbeitende Forschungsfeld einigen. Der Geldgeber darf später keinen Einfluss auf Forschung und Lehre und die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen nehmen.
Das sind aber nur erste Schritte. Der DHV ruft alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu auf, alle nicht aus der staatlichen Grundausstattung finanzierten Forschungsprojekte und Drittmittelprojekte einschließlich der Auftraggeber offenzulegen, z. B. auf der Homepage des Instituts. Nach Ansicht des DHV können sich die dazu notwendigen Angaben auf den Namen des Geldgebers, die Höhe der Förderung und die Dauer der Zuwendung beschränken. Für DFG-Projekte oder vergleichbare von der öffentlichen Hand finanzierte Forschungsvorhaben ist das bereits weitgehend Praxis. Sie muss aber insbesondere auf die nicht staatlich getragenen Drittmittelprojekte sowie insbesondere auf die in Nebentätigkeit durchgeführten Forschungsprojekte ausgedehnt werden. Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn es berechtigte Interessen des Drittmittelgebers gibt, die Drittmittelbeziehung nicht offen zu legen.
Darüber hinaus appelliert der DHV an alle Fachzeitschriften, die einem Fachbeitrag zugrundeliegenden Zuwendungsverhältnisse des Autors offenzulegen bzw. die entsprechenden Angaben vom Autor zu fordern sowie mögliche Interessenkonflikte aufzudecken.
3) Sensibilisierung der Studierenden für Loyalitätskonflikte
Studierende müssen von Hochschullehrern vom ersten Semester an für mögliche Loyalitätskonflikte sensibilisiert werden. Insbesondere im Fach Medizin sind angehende Ärzte und Wissenschaftler gezielt auf die Beeinflussungsstrategien Dritter vorzubereiten.
Der DHV bekräftigt in diesem Zusammenhang seine Überzeugung, dass künftige Funktionseliten in ihrem wissenschaftlichen Studium frühzeitig und umfassend mit ethischen Fragestellungen vertraut gemacht werden müssen. Fachbezogene Ethik mit Bezug zur jeweiligen Wissenschaftsgeschichte sollten daher an allen deutschen Universitäten Teil des Pflichtlehrangebotes sein.
Hannover, den 20. März 2012
(*) Der besseren Lesbarkeit halber gelten alle maskulinen Personen- und Funktionsbezeichnungen auf unseren Seiten für Frauen und Männer in gleicher Weise. Es gilt: Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigitur (Corpus Iuris Civilis Dig. 50,16,195, veröffentlicht 533 n. Chr.), übersetzt: Die Redeform im männlichen Geschlecht erstreckt sich für gewöhnlich auf beide Geschlechter.